„Ich bin dabei herauszufinden, wie man Prozesse des Scheiterns festhalten kann.“

Ein Gespräch über ehrliche Recherche

Marie-Lena Kaiser ist eine Choreographin und Tänzerin aus Essen. 2016 absolvierte sie ihr Tanzstudium an der Folkwang Universität der Künste und arbeitet seitdem erfolgreich freischaffend. Einige Monate ihres Lebens verbrachte sie in Mosambik, tourte durch Teile Europas und residierte in mehreren Tanzinstitutionen – all das ließ sie ihre eigene choreographische Sprache entwickeln. Zuletzt prämierte ihre Koproduktion ‚those who knew the rules‘ im Maschinenhaus Essen. Mit dem Rhein-Ruhr Magazin sprach Kaiser über das eingefahrene Bild von Recherche, warum ehrliche Recherche so wichtig ist und darüber, dass es okay ist, Dinge manchmal nicht zu Ende zu bringen.

RRM: Frau Kaiser, worum geht es in Ihren Produktionen?

Marie-Lena Kaiser: Ich habe gemerkt, dass mich gesellschaftliche Themen interessieren, weil man davor nicht wegrennen kann. Also geht es zum Beispiel viel um kollektive Entscheidungsprozesse und festgefahrene Bewegungsmuster. Wie verändern Konstellationen im Raum die Situation? Menschen synchronisieren sich gerne, ohne dass man viel machen muss. In meinen Produktionen geht es u.a. um diese Unstimmigkeit, wenn einer mal aus der Reihe fällt.

RRM: Würden Sie sagen, dass Sie aus der Reihe fallen? Mit der Art wie Sie arbeiten, der Art wie Sie Recherche betreiben?

Marie-Lena Kaiser: Das ist schwer zu sagen. Recherche kann für jeden etwas anderes bedeutet. Vor einigen Jahren habe ich mit dem Choreographen Horácio Macucua eine Recherche zum Thema Diversität gestartet. In diesem Prozess habe ich aber irgendwann so viele Fragen gestellt, dass ich daran ganz schön auseinandergefallen bin. Für so ein wichtiges und schweres Thema muss man in der Lage sein, richtig zu recherchieren. Und zu merken, dass ich in meiner Ausbildung gar nicht gelernt habe, wie man sich richtig mit Themen auseinandersetzt, war ein Schock. Ich war zwar ausgebildet in dem was ich tat, aber trotzdem fehlte mir ein essenzieller Teil. Also habe ich die Recherche erst einmal ruhen lassen. Ich wusste ich muss noch einmal von Null anfangen.

 

 

„Am interessantesten wurde es immer, wenn Menschen etwas nicht verstanden haben oder gescheitert sind.“

Bewegungsrecherche bei Kaisers Residenz im Maschinenhaus Essen. Foto: André Symann

RRM: Wie macht man das, von Null anfangen?

Marie-Lena Kaiser: Man kann damit anfangen, sich zu fragen: Was kann ich eigentlich? Ich habe erkannt, dass ich Tanz ganz vielen Leuten ganz nah bringen kann. Ich kann einen Raum schaffen, wo Tanz wirklich das Medium der Arbeit ist. Ich interessiere mich aufrichtig für Bewegung und kann dabei ganz genau sein. Wo ganz viele Leute aufgeben würden, bleibe ich dran. Aber mit dieser Präzision auch textlich zu arbeiten fällt mir noch schwer. Also bin ich auf einer Ebene ganz stark und auf einer anderen eher schwach. Und wie diese Ebenen zusammengehören, versuche ich gerade herauszufinden. Da ich aktuell aber in keiner Produktion bin, kann ich mir in meiner persönlichen Arbeit viel Zeit nehmen und mich mit der Basis von dem beschäftigen, was ich tue. Ich habe Zeit, mir grundlegende Fragen zu stellen und versuche mir die Grundlagen anzueignen, die mir fehlen.

Die Essener Tänzerin und Choreographin Marie-Lena Kaiser schloss 2016 schloss ihr Studium an der Folkwang Universität ab. Foto: Lennart Speer

RRM: Warum ist das wichtig? 

Marie-Lena Kaiser: Auch als freie Künstlerin gerät man schnell in eine Art Arbeitsrhythmus, der von äußeren Rahmenbedingungen bestimmt ist. Darum ist es wichtig, seinen eigenen Rhythmus zu entwickeln. Denn wenn man in dieser Szene arbeiten will, muss man sich sehr klar darüber sein, was man kann und was man will. Man muss eine absolut autonome Haltung gegenüber all den Möglichkeiten haben, die einem geboten werden. Also muss man sich über seine eigenen Stärken und Schwächen klar werden und das funktioniert nur, indem man sich immer wieder hinterfragt.

RRM: Woher kommt Ihre Faszination für den Tanz? 

Marie-Lena Kaiser: Bewegung ist etwas Echtes und erschafft eine große Intimität zwischen Menschen, ohne etwas zu zerreden. Aber wenn ich mich frage: Bewegung und Tanz, warum tu ich das überhaupt, dann ist die Antwort auch ganz klar: weil es richtig Spaß macht. Und so arbeite ich auch. Meistens benutze ich nur Freunde und Spaß als Technik, um mich und andere zu bewegen. Wenn man erfahrenden Tänzer:innen sagt: Beweg dich wie es dir Spaß macht, ist das total besonders, weil sich jeder erst einmal entspannt. Ich gebe aber auch unheimlich gerne Klassen, wo ganz unterschiedliche Menschen sind. Einfache Anweisungen geben auf einmal ganz andere Ergebnisse als erwartet. So ergeben sich für mich viel mehr Chancen, Dinge anders zu begreifen. Der Trainingsraum wird spannend.

Die Tänzer und Tänzerinnen Kati Masami Menze, Paula Pau, Josephine Kalies, Jordan Gigout, Aaron Samuel Davis, Pin Chen Hsu, Igor Meneses und Kaiser bei ihrer Residenz im Maschinenhaus Essen. Foto: André Symann

RRM: Der Trainingsraum spielt auch in Ihrer aktuellen Recherche eine große Rolle, können Sie das genauer beschreiben?

Marie-Lena Kaiser: Ich habe herausgefunden, dass der Trainingsraum das ist, wofür ich mich interessiere. Manchmal braucht es einen Raum, indem es einfach nur um den Moment des Zusammenseins geht und nicht darum, Leistung zu bringen. Und dann können aus diesen Momenten tolle Dinge entstehen.
Ich habe auch gemerkt, dass ich es uninteressant finde, mit einem Thema in den Trainingsraum zu kommen, über das ich vorher schon Textrecherche betrieben habe. Das berührt mich nicht. Ich möchte aus dem Medium Tanz herausarbeiten, im Raum die Ideen entstehen lassen und diese dann rausholen. Doch wenn man mit dem Körper arbeitet, kann es auch passieren, dass am Ende eines Tages mal nichts dabei herausgekommen ist. Dann sollte man es aber eher als eine Art Zirkulation betrachten und nicht als Stillstand. Gerade bin ich dabei herauszufinden, wie man solche Rechercheergebnisse und Prozesse des Scheiterns festhalten kann. Denn wenn ich recherchiere, möchte ich ehrlich recherchieren.

Die Choreographin bei der Arbeit im Trainingsraum. Foto: Josephine Kallies

RRM: Was ist eine ehrliche Recherche? 

Marie-Lena Kaiser: Wenn ich mich traue, wirklich über das zu reden, was ich tue. Menschen in der Szene neigen oft dazu, mit Worten um sich zu werfen, die vermeintlich gut klingen. Doch allein die Einfachheit im Raum zu beschreiben, ist oft herausfordernd und erfordert Mut. Außerdem sollte man sich Fragen: Was kann alles eine Erkenntnis sein? Und wie gebe ich dieser, auch wenn es keine Erkenntnis im herkömmlichen Sinne ist, Relevanz durch Sprache. Ich habe in meinem Leben schon mit vielen Künstler:innen gesprochen, aber am interessantesten war es immer, wenn Menschen erzählt haben, dass sie etwas nicht verstanden haben oder gescheitert sind. Denn zu einer Recherche gehören immer Prozesse des Suchens und auch des Scheiterns.

RRM: Was machen Sie nun mit dieser Erkenntnis?

Marie-Lena Kaiser: Ich würde diesen Prozess gerne mit einem Publikum teilen, egal in welcher Kunstform. Es ist wichtig ehrlich zu sagen, wie es ist, Dinge auch mal nicht zu Ende zu bringen. Wie sich das anfühlt und was daraus trotzdem für Erkenntnisse für die Zukunft gewonnen werden können. Weil ich glaube, dass ich nicht die Einzige bin, die sich mit diesem Gefühl konfrontiert sieht. 

Text: Mona Belinskiy 

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